Beleidigungen, zahlreiche Provokationen, eine Massenschlägerei im Kabinentrakt – am 16. November 2005 rückt beim Rückspiel der WM-Playoffs zwischen der Türkei und der Schweiz das Sportliche weit in den Hintergrund. Gazetten der Eidgenossen betiteln die Geschehnisse später als "Schande von Istanbul". Doch auch die "Schweizer Garde" ist an den massiven Ausschreitungen nicht unbeteiligt. Das LIGABlatt mit einem Rückblick.

Sportlich bieten die Play-off-Spiele zwischen der Schweiz und der Türkei im November 2005 schon im Vorfeld Höchstspannung. Die Schweiz schielt auf die erste WM-Teilnahme seit 1998, die Türkei nach dem starken dritten Platz bei der WM 2002 in Südkorea und Japan auf das nächste WM-Ticket für das Großturnier in Deutschland. Doch allein einen sportlichen Wettkampf liefern sich die beiden Kontrahenten nicht, was schon im Hinspiel deutlich wird. Die Eidgenossen gewinnen in einem intensiven Spiel gegen schwache Türken mit 2:0 und bringen sich so in eine hervorragende Ausgangssituation vor dem Rückspiel in Istanbul. Sichtlich angefressen und mit ordentlich Wut im Bauch beklagt sich der türkische Nationaltrainer Fatih Terim nach dem Spiel über unfaire Medien, schlechte Trainingsbedingungen und die Pfiffe aus dem Publikum. Außerdem habe der Gegner eigens türkische Schimpfwörter gelernt. Im Hinspiel angefangene Sperenzchen werden von den Boulevard-Medien beider Länder in den Tagen bis zum Rückspiel weiter angefeuert. Vor allem auf türkischer Seite entsteht – auch entscheidend angeheizt von Fatih Terims Anschuldigungen – fast schon blanker Hass, der sich beginnend mit der Ankunft der Schweizer am Istanbuler Flughafen entladen sollte.

Şükrü Saraçoğlu Stadı wird zur Schweizer Hölle

Schon die Einreise gerät zur Schikane, muss die Schweizer Delegation doch über eineinhalb Stunden bei der Passkontrolle verweilen, während Sicherheitskräfte zusammen mit anwesenden Fans die Spieler beschimpfen. Auf dem Weg ins Hotel wird der Schweizer Bus mit Eiern, Tomaten und Steinen beworfen, das Training am Abend wird abgesagt. "So etwas habe ich noch nie erlebt", ordnet Stürmer Alex Frei ein. Weiter geht es dann im Şükrü Saraçoğlu Stadı, der von türkischer Seite aus selbsternannten Hölle an diesem Abend. Während der schweizerischen Nationalhymne ertönt ein Pfeifkonzert. "Es war wahnsinnig, welche Aggression herrschte", wird Frei später in der "NZZ" zitiert. "So etwas habe ich in meiner Karriere nicht einmal ansatzweise ein anderes Mal erlebt."

Angepeitscht von den fanatischen Fans zeigt die Türkei im Rückspiel ein anderes Gesicht, ist der Schweiz über weite Strecken hochüberlegen, muss ihr am Ende aber trotz eines 4:2-Sieges wegen der Auswärtstorregel das WM-Ticket überlassen. Was sich im Hinspiel, in den Tagen danach und am Rückspieltag aufgebauscht hatte, entlädt sich dann fernab aller fußballerischen Klasse auf und abseits des Platzes. Und dabei sind auch die Schweizer nicht rauszunehmen: Verteidiger Ludovic Magnin täuscht im Vollsprint einen Schuss auf die Trainerbank der Türkei an, ein Assistent der Eidgenossen zerreißt vor den Augen der Heimfans eine türkische Flagge. Der Schlagabtausch, den sich die Mannschaften auf dem Rasen liefern, wird nach Spielschluss sofort in die Stadion-Katakomben verlegt.

"Selbst heute habe ich noch Nachwirkungen" – Angeblich Bedrohung für TV-Reporter

Stéphane Grichting, der damals als Ersatzspieler dabei war, wird bei einem Tritt in den Unterleib verletzt und muss ins Krankenhaus. "Selbst heute habe ich noch Nachwirkungen", sagte er der Tageszeitung "Blick". "Ich habe im Alltag immer noch Schmerzen und Beschwerden." Anwesenden Reportern des deutschen Fernsehens, die ein Interview mit dem Schweizer Philip Degen führen wollen, sollen Schläge angedroht worden sein, sofern sie das Filmen nicht unterlassen. Die Gazetten beschreiben die Geschehnisse später als "Schande von Istanbul". Der damalige FIFA-Präsident Sepp Blatter sagt daraufhin: "Wir werden handeln und hart durchgreifen."

Der türkische Fußballverband wird daraufhin zu einer Geldstrafe von 220.000 Franken verurteilt und muss die Verfahrenskosten tragen. Zudem müssen die nächsten sechs Heimspiele auf neutralem Boden ausgetragen werden. Die türkischen Spieler Emre Belözoğlu und Alpay Özalan werden zu Geldstrafen in Höhe von 16.000 Franken und sechs Spielen Sperre verurteilt. Serkan Balcı muss 5.500 Franken zahlen und zwei Pflichtspiele zusehen. Assistenz-Coach Özdilek wird für zwölf Monate gesperrt. Auch der Schweizer Benjamin Huggel wird neben Physiotherapeut Meyer für sechs Spiele gesperrt und muss 15.500 Euro Strafe zahlen. Er verpasst dadurch die WM 2006 in Deutschland.

Friedliches Wiedersehen drei Jahre später

Drei Jahre später dann das Wiedersehen bei der EM 2008, wo der Türkei zumindest die sportliche Rache gelingt. Mit 2:1 gewinnen die Halbmond-Sterne gegen den Gastgeber und ebnen so den Erfolgsweg, der erst im Halbfinale ein Ende finden sollte. Und im Gegensatz zur "Schande von Istanbul" drei Jahre zuvor, bleibt von diesem Spiel rein das Sportliche in Erinnerung.

Foto: Cem Turkel/Getty Images