War im Spiel Argentinien gegen Kroatien die Favoritenrolle schon klar verteilt, sieht es im zweiten WM-Halbfinale zwischen Marokko und Frankreich noch krasser aus. Nicht nur kommen die Franzosen als Titelverteidiger daher, von den verbliebenden Mannschaften im Turnier haben auch den mit Abstand größten Marktwert, die Marokkaner den geringsten. Wie sollen die Nordafrikaner dann gegen diesen schier übermächtigen Gegner überhaupt eine Chance haben? Wir verraten es euch! Eine Analyse von LIGABlatt-Redakteur Ove Frank.

Marokko ist die Überraschung dieser Weltmeisterschaft! Als erste afrikanische Nation überhaupt hat die Mannschaft um Trainer Walid Regragui das Halbfinale einer Fußball-WM erreicht, womit sie bereits jetzt Geschichte geschrieben hat. Hier soll die Reise aber noch nicht enden; Nun soll auch der ganz große Wurf gelingen!

Keine Zeit für Experimente

Was im Vorfeld dieses Halbfinalspiels auffällt, ist der Umstand, dass sowohl die Marokkaner als auch die Franzosen insgesamt jeweils mit sehr vorausschaubaren Spielsystemen antreten. Während die Marokkaner von Anfang an ihrer Route treu geblieben sind und bisher alle Spiele in der 4-1-4-1-Formation begonnen haben, haben sich die Franzosen, wenn es drauf ankam, meist auf ihr altbewehrtes 4-2-3-1 verlassen, welches bereits beim Titelgewinn 2018 mehrfach zum Einsatz kam.

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Erwartbare Anfangsformationen Marokkos (rot) und Frankreichs (blau) vor dem WM-Halbfinale:
Aufstellung Marokko: 1-Bono / 3-Mazraoui / 5-Aguerd / 6-Saïss (K) / 2-Hakimi / 4-Amrabat / 17-Boufal / 15-Amallah / 8-Ounahi / 7-Ziyech / 19- En-Nesyri
Aufstellung Frankreich: 1-Lloris (K) / 22-Hernández / 18-Upamecano / 4-Varane / 5-Koundé / 8-Tchouameni / 14-Rabiot / 10-Mbappé / 7-Griezmann / 11-Dembélé / 9-Giroud

Marokko wird also so spielen, wie sie schon anderen großen und spielstarken Gegnern wie Belgien, Spanien oder Portugal haben richtig wehtun können. Der Umstand, dass es den Marokkanern gelang, sich gegen diese Gegner durchzusetzen und dabei während des ganzen Turniers ungeschlagen geblieben sind, zeigt, dass das Erreichen des Halbfinals dieser Weltmeisterschaft kein Zufall gewesen ist.

Die Marokkaner kommen über eine starke Defensive – nur ein einziges Gegentor in fünf Spielen sprechen eine eindeutige Sprache – gepaart, mit Geschwindigkeit auf den Außen, einer guten Physis, sowie über Galligkeit in den Zweikämpfen. Die Portugiesen sind zuletzt daran verzweifelt, dass, egal was sie probiert haben, immer mindestens ein Nordafrikaner ihnen auf den Füßen stand.
Mit dieser Herangehensweise schaffen es die Marokkaner regelmäßig, dass ihre Gegner ihr spiel nicht entfalten können. Für Mannschaften, die selbst gerne das Ruder in der Hand haben, sind die "Berberlöwen" ein sehr undankbarer Gegner.

Behauptet man allerdings, die Nordafrikaner wären nur auf Zerstörungsfußball aus, dann ist dies schlicht falsch: Mit Hakim Ziyech (7), Achraf Hakimi (2), Noussair Mazraoui (3) und Youssef En-Nesyri (19) haben sie tolle Techniker in den eigenen Reihen, die bei internationalen Topklubs unter Vertrag stehen. Überfallartig überrumpeln die Marokkaner ihre Gegner, sollte sich ihnen eine Lücke bieten. Bis dahin allerdings, ist ihr Spiel primär abwartend.

Frankreich hingegen beruft sich auf seine bekannten Stärken: Nämlich praktisch alles! Es erscheint schon fast unfair, wie gut die Franzosen auf jeder Position besetzt sind und welche Tiefe im Kader Herrscht. Dennoch ist Frankreich-Trainer Didier Deschamps keiner für große Experimente. Er vertraut lieber altbewährtem und setzt auf Eingespieltheit und Qualität. Die Équipe Tricolore macht gerne das Spiel, wobei sie in der Offensive auf Geschwindigkeit auf den Außenpositionen setzen. Zeil ist es, den pfeilschnellen Dribbelkünstlern Kylian Mbappé (10) und Ousmane Dembélé (11) räume zu verschaffen, damit sie die gegnerische Abwehr unter Druck setzen und diese zu Fehlern zwingt. Mittelstürmer Olivier Giroud (9) ist dann für die Abstauber zuständig.

Gleichmäßiges Verschieben trifft auf Asymmetrie

Auch wenn beide Mannschaften zwar jeweils in einer bestimmten Formation beginnen, sind Marokko und Frankreich Musterbeispiele dafür, dass sich diese Systeme im Spiel selbst meist verschieben:

Wenn Marokko in der Rückwärtsbewegung ist, bleibt das 4-1-4-1 bestehen. Der defensive Mittelfeldspieler Amrabat (4) soll hierbei vorstoßen und den gegnerischen Spielmacher – in diesem Fall Griezmann (7) – daran hindern, Schlüsselpässe zu spielen, während die beiden Achter zusätzlichen Druck ausüben. Die Innenverteidigung rückt derweil zusammen und die Außenverteidiger lassen sich zum Strafraumrand zurückfallen.

Gelangt Marokko allerdings in Ballbesitz, verschiebt sich das System in ein 3-4-3. Amrabat lässt sich zwischen die beiden Innenverteidiger fallen, während die Außenverteidiger Mazraoui (3) und Hakimi (2) nach vorne sprinten, um die Offensive zu verstärken. Die beiden äußeren Mittelfeldspieler Ziyech (7) und Boufal (17) ziehen dann nach innen und stoßen bis zum Strafraumrand vor. Hier sollen sie dann Pässe spielen, durch gute Dribblings Fouls ziehen und so für gute Standardsituationen sorgen oder auch einfach mal abziehen. Hauptsache, die gegnerische Abwehr bleibt unter Druck! Die beiden Achter Amallah (15) und Ounahi (8) sollen derweil im Mittelfeld etwaige Konter unterbinden.

Die Franzosen wiederum versuchen eher ihre individuellen Stärken zur Geltung kommen zu lassen. So rückt Rechtsverteidiger Koundé (5) ein, um mit den Innenverteidigern Varane (4) und Upamecano (18) eine Dreierkette zu bilden. Linksverteidiger Theo Hernández (22) wiederum stößt vor und beackert die linke Außenbahn. Damit gibt er Superstar Mbappé (10) die Möglichkeit, nach Innen zu ziehen und die gegnerische Abwehr unter Druck zu setzen oder direkt zum Abschluss zu kommen. Je nach Geschwindigkeit des eigenen Spielaufbaus verschieben Hernández und Mbappé gleichmäßig. Der defensivere Part der französischen Doppelsechs, Tchouameni (8), lässt sich derweil nach hinten fallen, während Rabiot (14) rechts weiter nach vorne rückt. Durch den vorrückenden Hernández entsteht so ebenfalls eine Variation des 3-4-3-Systems, hier allerdings mit einer Mittelfeldraute.

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Die ursprünglichen Formationen lösen sich während des Spiels auf: Im eigenen Ballbesitz spielen die Marokkaner dann in einem 3-4-3-System, während die Franzosen asymmetrisch verschieben und eine Mittelfeldraute bilden.

Marokkos Schlüssel: Die Außenverteidiger

Im Taktik-Schaubild ist schön zu erkennen, wie unterschiedlich beide Mannschaften verschieben. Während die Marokkaner auf eine gleichmäßige Positionsanpassung setzen, gehen die Franzosen den komplizierten Weg der asymmetrischen Verschiebung; Ein Ansatz, den auch die deutsche Mannschaft verfolgt hat, mit dem Unterschied, dass es bei Frankreich für den Einzug ins Halbfinale gereicht hat.

Das Risiko der asymmetrischen Verschiebung liegt darin, dass die Kommunikation perfekt stimmen muss. Ein Abstimmungsfehler kann die gesamte Statik des eigenen Spiels ins Wanken bringen. Es besteht die Gefahr, dass in der Rückwärtsbewegung einige Positionen zwar doppelt besetzt sind, andere dafür gar nicht. Dadurch sind die Franzosen gerade defensiv anfällig. Frankreich hat in jedem Spiel ein Gegentor kassiert und zudem mehrere Elfmeter verursacht. Mit gekonntem Umschaltfußball kann man die Franzosen daher schnell in Bedrängnis bringen; Ein Umstand, der den Marokkaner sicherlich gefallen dürfte.

Um die Franzosen zu überrumpeln, bedarf es schneller und ausdauernder Außenbahnspieler. Hakimi und Mazraoui werden das Spiel ihres Lebens abliefern müssen, um die Franzosen zu Fall zu bringen. Sie müssen gleichermaßen die eigene Offensive unterstützen und gefährliche Konter setzen, während sie den Dribbelkünstlern Mbappé und Dembélé im Nacken sitzen und ihnen keine Räume gewähren. Derweil muss die Abstimmung zwischen dem eigenen Abwehrzentrum und den Achtern passen, um die Franzosen am Kontern zu hindern.

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Bei den Marokkanern werden die Außenverteidiger ständig in Bewegung sein müssen, um die Franzosen zu überrumpeln und gleichzeitig das gegnerische Spiel an dessen Entfaltung zu hindern. Die offensiven Mittelfeldspieler unterstützen die Stürmer, während der Sechser in die Verteidigung abkippt. Frankreich verschiebt derweil asymmetrisch, um die eigenen Stärken in Szene zu setzen.

Dies alles mag zwar nach einer Herkulesaufgabe klingen, es ist aber eine, die die Marokkaner schon das ganze Turnier so angehen. Die Tugenden, die gegen Frankreich greifen müssen, standen bereits gegen Spanien, Portugal und Belgien im Mittelpunkt und hier ging der eigene Matchplan immer auf. Vom System her ist Frankreich also ein Gegner, der den Nordafrikanern liegen dürfte, das Problem ist die unfassbare Qualität der Franzosen. Mbappé kann man keine 90 Minuten halten. Griezmann wird immer einen genialen Moment im Fuß haben und Giroud hat einfach ein Näschen für Torraumszenen. Dennoch, die "Berberlöwen" haben wiederholt bewiesen, dass sie vermeintlich übermächtige Gegner knacken und ihre eigenen Qualitäten auf den Platz bringen können. Entschieden ist hier im Vorfeld noch gar nichts!

Foto: VALERY HACHE/AFP via Getty Images