Nach dem blamablen Aus der Nationalmannschaft bei der EM beginnen die Aufräumarbeiten. Eine schonungslose Aufarbeitung, um zu analysieren, was genau in Rom und Baku schief gelaufen ist, ist dringend notwendig. Wie das Team nach diesem denkwürdigen Sommer aussehen wird, lässt sich aktuell noch nicht sagen.

Das beginnt beim Trainer. Şenol Güneş hat bereits bekräftigt nicht an einen Rücktritt zu denken. Zwar hat er bei diesem Turnier häufig danebengegriffen, der Kredit durch die erfolgreiche EM-Qualifikation und die Auftritte gegen die Niederlande und Deutschland ist allerdings dennoch nicht völlig aufgebraucht. Dazu kommt die Frage, wer den erfahrenen und bei seinen Spielern hoch geschätzten Coach ersetzen sollte. Ansonsten ist die Türkei in einer etwas paradoxen Situation. Normalerweise folgt nach einem enttäuschenden Turnier der große Kahlschlag. Spieler treten zurück oder rutschen aufgrund ihres Alters und der gezeigten Leistungen aus dem Blickfeld der Nationalmannschaft. Bei der Türkei ist das nicht zu erwarten. Der Kader war der jüngste aller Teilnehmer und von vielen Spielern sind noch Leistungssprünge zu erwarten. Ein altersbedingtes Ende der Nationalmannschaftskarriere scheint höchstens bei Kapitän Burak Yılmaz denkbar. Zwar enttäuschte der Stürmer beim Turnier ebenfalls, während seiner herausragenden Saison in Frankreich hat er allerdings gezeigt, dass nach wie vor mit ihm zu rechnen ist. Die Frage bleibt mit oder ohne Yılmaz allerdings, wer das Team in der Zukunft anführen soll. Ersatzkapitän Hakan Çalhanoğlu ließ jegliche Führungsqualitäten ebenso vermissen, wie die beiden Mittelfeldlenker Ozan Tufan und Okay Yokuşlu. Kaan Ayhan, in den Vorbereitungsspielen mit der Binde ausgestattet, hat keinen Stammplatz inne und konnte während der Vorrunde weder in der Innenverteidigung noch auf der Sechs überzeugen.

Mehr Verantwortung für Söyüncü

Bliebe aus dem aktuellen Kader eigentlich nur Çağlar Söyüncü. Auch der Abwehrboss konnte die dreifache Blamage nicht verhindern, vermittelte als einer der wenigen allerdings den Eindruck, sich gegen die Schmach aufzubäumen. Sportlich führt sowieso kein Weg an ihm vorbei. Er könnte trotz seines jungen Alters in Zukunft noch mehr Verantwortung übernehmen. Dazu wird Güneş darauf hoffen, dass Cenk Tosun nach seiner schweren Verletzung wieder richtig in Tritt kommt und auch im Nationaldress wieder eine gute Rolle spielen kann. Abzuschätzen ist das aktuell allerdings noch nicht.

Bereits im September geht es weiter

Viel Zeit werden Güneş oder ein eventueller Nachfolger nicht haben. Bereits am 1. September geht die WM-Qualifikation weiter und die Türkei will unbedingt die Tabellenführung verteidigen. Dafür müssen jetzt alle Weichen gestellt werden. Einige Youngster, wie Orkun Kökçü oder insbesondere Mert Müldür, haben angedeutet, dass sie für höhere Aufgaben bereit sind. Vor allem der Mann von Sassuolo drängt sich auf und könnte die Problemstelle links hinten bekleiden. Fest als Leistungsträger eingeplante Akteure konnten ihre Nominierung hingegen überhaupt nicht rechtfertigen und werden sich hinterfragen müssen. Vor der Türkei liegt eine Mammutaufgabe und aktuell scheint es noch schwer vorstellbar, wie dieser völlig verunsicherte und zurecht gescholtene Kader bereits im September wieder für Furore sorgen soll. Das Gute ist, dass sämtliche Spieler ihr Können zumindest in der Vergangenheit nachgewiesen haben. Talent ist also vorhanden. Jetzt braucht es Spieler, die vorangehen.

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