Obgleich die Enttäuschung ob des Ausscheidens im Viertelfinale bei der EM im eigenen Land bei den deutschen Fans und Spielern noch tief sitzt, ist doch gleichzeitig auch eine allgemeine Aufbruchsstimmung zu spüren, mit der eine gewisse Vorfreude bezüglich der deutschen Nationalmannschaft bei kommenden Turnieren einhergeht. Dementsprechend haben wir uns mal Gedanken gemacht, wie die DFB-Auswahl bei der WM 2026 spielen könnte. Eine Taktikanalyse von LIGABlatt-Redakteur Ove Frank.
Direkt nach der EM ist bereits klar, dass die deutsche Nationalmannschaft beim nächsten großen Turnier ein personell anderes Gesicht zeigen wird. Bundestrainer Julian Nagelsmann hatte schon angekündigt, dass er plane, den Kader spürbar zu verjüngen und die kommenden zwei Jahre bis hin zur Weltmeisterschaft 2026 zur Entwicklung nutzen wolle.
Mit Toni Kroos hat eine wichtige Säule des Teams inzwischen seine Karriere beendet und auch Thomas Müller wird nicht mehr im DFB-Trikot auflaufen. Bei Torwart Manuel Neuer stünde die Entscheidung noch nicht fest und auch bei Kapitän İlkay Gündoğan erscheint ein Rücktritt aus dem Nationalteam zumindest nicht ausgeschlossen.
Einige erfahrene Säulen, ansonsten Augenmerk auf jüngere Spieler
Auf Grundlage dessen wollen wir schauen, wie eine in einem realistischen Maße verjüngte Startelf der deutschen Nationalmannschaft beim nächsten Großturnier im Sommer 2026 aussehen könnte. Mit dennoch erfahrenen Kempen wie Joshua Kimmich, Niclas Füllkrug und Marc-André ter Stegen werden ebenso Spieler jenseits der 30 in der Startaufstellung zu erwarten sein, wie auch Akteure, die im DFB-Dress bislang noch keine wirkliche Rolle gespielt haben.
Variable Grundformation
Das taktische Grundkonzept entspricht hierbei, ähnlich wie schon bei einer möglichen türkischen Startelf bei der WM 2026, einem variablen 4-2-2-2-System. Dabei ist der Gedanke, dass die Spieler vor allem ihrer Stärken gemäß eingesetzt werden und dass die unterschiedlichen Qualitäten, die ein jeder Kicker mitbringt, das Gesamtbild ergänzen. Im Spiel selbst würde sich die Grundformation dann dementsprechend anpassen.
Auch wenn Manuel Neuer insgesamt noch einmal ein gutes Turnier gespielt hat, ist es nun allmählich an der Zeit, den sechs Jahre jüngeren Marc-André ter Stegen im Kasten den Vortritt zu lassen. Die Innenverteidigung bestünde dann aus Jonathan Tah sowie Nico Schlotterbeck, auf den beiden Außenverteidigerpositionen spielen links David Raum und rechts weiterhin Joshua Kimmich. Die Doppelsechs würde im Vergleich zur Heim-EM komplett durchgetauscht werden und besteht aus Angelo Stiller und Aleksandar Pavlović.
Da in diesem Spielkonzept beide Sechser insgesamt defensiver denken, bietet sich beiden Außenverteidigern mehr die Möglichkeit, sich nach vorne hin einzuschalten. Die würde vor allem für David Raum gelten, weshalb der Leipziger hier auch den Vorzug vor dem defensiver agierenden Maximilian Mittelstädt erhält. Weiter vorne finden sich in den Halbraumpositionen die Shootingstars Jamal Musiala und Florian Wirtz, während Kai Havertz und Niclas Füllkrug nominell eine Doppelspitze bilden.
Mehr Präsenz im gegnerischen Strafraum
Die veränderte Grundformation und der Gedanke eines Doppelsturms sind eine direkte Konsequenz sowohl aus dem nachrückenden Spielermaterial als auch aus den Erkenntnissen von der EM 2024. Kai Havertz hatte dort als alleiniger Mittelstürmer zwar mit guten Läufen, viel Fleiß und dem Herausarbeiten zahlreicher Chancen punkten können, blieb im Abschluss aber deutlich hinter den Erwartungen zurück.
Hier soll nun Niclas Füllkrug für einen stärkeren "Punch" im gegnerischen Strafraum sorgen. Zusammen ergänzen sich beide Angreifer, wobei sich Kai Havertz auch situationsbedingt ins Mittelfeld zurückfallen lassen kann, um sich hier bereits früher die Bälle zu holen, während Füllkrug den "klassischen Strafraumstürmer" mimt.
Fließender Positionswechsel im Mittelfeld
Von hier aus könnte sich Jamal Musiala im Ballbesitz ebenfalls mehr nach vorne hin einschalten, während Florian Wirtz als "klassischer Zehner" mehr ins Zentrum rückt, um hier Steckpässe in die Spitze zu spielen. Die Außenverteidiger würden situationsbedingt jeweils vorrücken, während sich der andere mehr ins Mittelfeld fallen lässt. So kann man beide entweder für eine Flanke von der Grundlinie oder für eine Halbraumflanke einsetzen.
Einer der beiden Sechser würde sich in die Abwehr zurückfallen lassen, um hier in einer vorübergehenden Dreierkette im Spielaufbau zu helfen und so im weitesten Sinne die Rolle einzunehmen, die bei der EM ein Toni Kroos innehatte. Der andere wiederum (aufgrund seiner größeren Laufstärke in diesem Beispiel Stiller) Würde vor der Abwehr dann Löcher stopfen und gegebenenfalls auf den Flügel ausweichen, um den jeweils vorgerückten Außenverteidiger hinten zu ersetzen. So ergäbe sich im Ballbesitz ein 3-4-3 mit einer Mittelfeldraute.
Taktische Flexibilität im Spiel
Im dynamischen Spielverlauf ändert sich eine solche Formation natürlich und je nach Gegner müsste man mal mehr, mal weniger für Präsenz im gegnerischen Strafraum sorgen. Igelt sich der Gegner ein, was während des letzten Turniers in den meisten Spielen der Fall gewesen war, wären mit Havertz und Füllkrug zwei große Spieler im gegnerischen Strafraum sinnvoll, während von beiden Seiten die Außenverteidiger Flanken in den Sechzehner bringen müssten.
Funktionierende Prinzipien beibehalten!
Indem sich Musiala und Wirtz aber beide an den Strafraumrand fallen lassen, können diese von hinten einrücken und auch mal von der Sechzehnerkante abschließen, wenn sie vom aufgerückten Außenverteidiger mit einem flachen Pass eingesetzt werden – so geschehen beim 1:0 für Deutschland im EM-Auftaktspiel gegen Schottland, als Kimmich Wirtz bediente. Beim 1:0 der Spanier im Viertelfinale gegen die Deutsche Mannschaft fiel der Treffer ähnlich, als so Lamine Yamal von außen den einrückenden Dani Olmo bediente.
Asynchrone Außenverteidiger und rotierendes Mittelfeld
Das auf dem ersten Blick unscheinbare Spiel der Doppelsechs wäre allerdings weiterhin wichtig, da es ihre Aufgaben ist, je nach Lauf entstehende Lücken zu schließen. Die Außenverteidiger würden im Idealfall asynchron vor- und zurückschieben, während einer der beiden Sechser in den hinter dem vorrückenden Außenspieler entstehenden Raum rücken würde. Dessen Partner wiederum müsste die Mitte zumachen, um Konter durch die Mitte zu vermeiden.
Da David Raum mehr Tempo und Dynamik mitbringt als Joshua Kimmich, der bei der WM immerhin schon 31 Jahre alt sein wird, wird dieser mehr zur Grundlinie durchgehen, während sich Kimmich mehr in den erweiterten Sechserraum fallen lässt, um das Spiel aus dem Mittelfeld heraus durch seine bekannten Chipbälle über die Abwehr auch durch die Mitte aufzubauen. Musiala und Wirtz sollten beide weitestgehend von der Leine gelassen werden und intuitiv die Positionen miteinander tauschen. Lässt sich ein Kai Havertz dann ebenfalls fallen und weicht mal in den Zehnerraum und mal auf den Flügel aus, wird es für jede Abwehr schwer, sich darauf einzustellen.
Beide Sechser schließen offene Räume
Bei beiden Sechsern wird es vor allem darauf ankommen, das freie Positionsspiel der Offensive nach hinten hin abzusichern, indem die ständig neu entstehenden Lücken zu schließen. Deshalb braucht es Spieler, die sowohl einen eröffnenden Pass spielen als auch fleißig nach hinten arbeiten können. Aktuell entspricht Robert Andrich am ehesten diesem Profil, da aber auch dieser nicht jünger wird, erscheinen derzeit auf lange Sicht Angelo Stiller und Aleksandar Pavlović als die vielversprechendsten Kandidaten, da sie im Verein bereits mit ähnliche Rollen vertraut sind.
Das Grundkonzept steht bereits
Allgemein lässt sich sagen, dass, obwohl vor allem mit Kroos eine extrem wichtige Stütze fürs Spiel der Nationalmannschaft weggebrochen ist, es unter den nachrückenden Spielern durchaus Profile gibt, die dies im Kollektiv wettmachen können. Insgesamt müsste man gar nicht so viel ändern. Der Hauptgedanke wäre lediglich der, Kai Havertz situationsbedingt eine Position weiter nach hinten zu ziehen und vor allem Niclas Füllkrug als Konstante im gegnerischen Strafraum spielen zu lassen.
Kein Platz für Kapitän Gündoğan
In Diesem System wäre allerdings für den aktuellen DFB-Kapitän İlkay Gündoğan kein Platz. Konzentriert man sich aber auf eine deutliche Verjüngung des Kaders (bei der WM würde Gündoğan auf die 36 zugehen) könnte man aber auch das gut wegmoderieren. Entscheidend wird sein, wie Nagelsmann in den kommenden Monaten allgemein kommunizieren wird. Im Verbund mit Co-Trainer Sandro Wagner hat der Bundestrainer ja bewiesen, dass gut kommunizieren und Rollen zuweisen kann, ohne im Team für Stunk zu sorgen.
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