Für viele Beobachter überraschend konnte Deutschland Vizeweltmeister Frankreich mit 2:1 schlagen. Aber was hat man denn anders gemacht als beim 1:4 zuletzt gegen Japan? Lasst uns doch mal einen taktischen und inhaltlichen Blick auf das Spiel werfen: Eine Taktikanalyse von LIGABlatt-Redakteur Ove Frank. 

"Was war das denn? Wir können es ja doch noch!", wird sich der eine oder andere Zuschauer beim 2:1 Sieg der Deutschen Nationalmannschaft gegen Frankreich wohl gedacht haben. Nach dem 1:4 gegen Japan vom vergangenen Samstag und der daraus resultierenden Freistellung von Bundestrainer Hansi Flick, war die Stimmung in Deutschland bezüglich des eigenen Nationalteams nur neun Monate vor der Heim-EM auf dem Tiefpunkt. Als nun Vizeweltmeister und haushoher Favorit Frankreich ums Eck kam, war gefühlt weniger die Frage, ob die DFB-Auswahl das Spiel überhaupt gewinnen kann, sondern eher ob man sich nur drei, vier oder doch sieben Gegentore fangen würde. Nun konnte sich die Mannschaft von Interims-Teamchef Rudi Völler mit einem am Ende auch verdienten 2:1 gegen "Les Bleus" durchsetzen. Nun fragt man sich: "Was hat man denn anders gemacht, dass sich diese Leistungsumkehr erklären lässt?" Die Antwort: Weniger als man meinen würde. In dieser Taktikanalyse gehen wir dem Ganzen mal ein wenig auf den Grund.

Weniger Ballbesitz und mehr Aggressivität

Was im direkten Vergleich zwischen den beiden Partien gegen Japan und Frankreich auffällt, dass weniger auf Ballbesitz und dafür auf Zweikampfführung gesetzt wurde. Gegen die Japaner hatte die DFB-Auswahl 67% Ballbesitz, doch konnte man nur wenig damit anfangen. Einer der Hauptkritikpunkte unter Bundestrainer Hansi Flick war, dass man es zu selten schaffte, sich gegen tiefstehende Gegner gute Chancen herauszuarbeiten. Der hohe Ballbesitzanteil führte zu vielen Querpässen und einem behäbigen Spielaufbau. Verlor man dann die Kugel, funktionierte oft die Restverteidigung nicht richtig und man fing sich einen Kontergegentreffer nach dem nächsten. Gegen Frankreich nun war das Ballbesitzverhältnis nahezu pari. Anstatt selbst lange den Ball haben zu wollen, setzte man eher darauf, den Gegner aggressiv anzulaufen und im Spielaufbau zu Fehlern zu zwingen. Die eigenen Ballbesitzphasen waren dann mehr vom Kurzpassspiel geprägt, das man gerne auf die Außen verlagerte, das gegnerische Spiel in die Breite zu ziehen und so Löcher in die Abwehr der Franzosen zu reißen. Zwar gelang dies nicht immer – die Franzosen standen meist diszipliniert – doch die eine oder andere falsche Zuordnung schlich sich dann doch beim Vizeweltmeister ein und das war kein Zufall. Indem man die Franzosen zu Fehlern zwang, im Zentrum und hinten stabil stand und bei sich mehr auf qualitativen denn quantitativen Ballbesitz setzte, reichte es aus, mit Nadelstichen die Partie für sich zu entscheiden.

X-Faktor: Klarere Außenverteidigerprofile und defensive Doppelsechs 

Das, was vielleicht den entscheidenden Ausschlag für den aus deutscher Sicht positiven Spielausgang sorgte, waren zwei personelle Entscheidungen – eine vor dem Anpfiff, eine nach 25 gespielten Minuten: Mit Jonathan Tah als Rechtsverteidiger spielte man hinten sehr defensiv und konzentrierte sich aufs Abräumen. Niklas Süle, der in der Vergangenheit häufiger auch rechts Spielte, ins Abwehrzentrum zu setzen, war eine taktisch wie menschlich sehr clevere Idee: anders als Süle, machte Tah mit dem Ball keine Offensivläufe, sondern lief lediglich gegen den Ball hoch an, was die Franzosen früh unter Druck setzte. Süle hingegen, konnte eine seiner Stärken – seine Endgeschwindigkeit – in der Mitte ausspielen, um zu verhindern, dass man leicht überrannt würde. Benjamin Henrichs auf links wiederum hinterlief zwar gerne und unterstützte so die deutsche Offensive, ließ sich aber auch ins Kurzpassspiel seiner Teamkameraden einbinden, indem er invers agierte. In diesem Fall blieb dann Serge Gnabry auf außen. Dieses Spielsystem kennt der Außenverteidiger aus Leipzig, wo er unter Marco Rose ein ähnliches Aufgabenportfolio hat. Der Kniff, der während des Spiels wesentlich zum Erfolg der deutschen Mannschaft beitragen sollte, war die Einwechslung von Pascal Groß für den verletzten İlkay Gündoğan. Gündoğan sollte offensichtlich ins Pressing gehen, nach seiner Verletzung entschied man sich für den Defensiveren Groß, der zusammen mit Emre Can eine klassische von hinten heraus agierende Doppelsechs, die den Gegner regelmäßig in Zweikämpfe verwickelte. Vorne liefen vor allem Thomas Müller und Florian Wirtz gut an, sodass der Ausfall Gündoğans fürs eigene Pressing nicht zu sehr ins Gewicht viel

Vergleich zum Spiel gegen Japan: Ähnliche Aufstellung, simplere Rollenverteilung 

  • Realtaktische Aufstellung Deutschlands gegen Japan

Im Spiel gegen Japan konnte man sehen, dass Hansi Flick ein sehr raffiniertes und positionsübergreifendes System spielen wollte, daran aber krachend gescheitert ist. Gegen Frankreich lief Deutschland aufstellungstechnisch zwar ähnlich auf, die taktischen Maßgaben waren aber wesentlich simpler. In beiden Partien lief man in einem 4-2-3-1 auf, mit drei gelernten Innenverteidigern hinten. Im Spiel gegen Japan war hier Nico Schlotterbeck links der Innenverteidiger auf außen, im Spiel gegen Frankreich war es Jonathan Tah rechts. Der Unterschied hier war allerdings der jeweils andere Außenverteidiger und dessen Positionsspiel. Während Kimmich gegen Japan praktisch immer invers agierte, um das Mittelfeldzentrum zu verstärken, überlief Henrichs gegen Frankreich auf links mal und mal zog es ihn ebenfalls nach innen. Tat er letzteres, ließ sich der jeweilige Sechser (Groß und Can tauschten situationsbedingt gerne die Position) nach hinten fallen und Rüdiger wich nach links aus, um hinten die Lücke zu schließen. Gnabry blieb in diesem Fall auf außen. Überlief Henrichs, zog Gnabry nach innen, um im und um den Strafraum als zusätzliche Option anspielbar zu sein. Gegen Japan führten das nach innen Ziehen von Kimmich sowie das Vorrücken von Gündoğan hinten links sowie im rechten Halbfeld zu großen Lücken, die die Japaner fürs eigen Umschaltspiel immer wieder ausnutzten. Den oft unglücklich agierenden Nico Schlotterbeck trifft bei den vielen Gegenangriffen über links nur eine Teilschuld, da dieser hier vom Mittelfeld zu sehr allein gelassen wurde. Indem man durchs verbesserte Positionsspiel gegen Frankreich diese Lücken schloss, stand man hinten deutlich stabiler und konnte sich besser aufs eigene Spiel konzentrieren.

  • Realtaktische Aufstellung Deutschlands gegen Frankreich

War der Sieg gegen Frankreich die Wende? 

Ich möchte nur ungerne die Spaßbremse sein, doch wollen wir das 2:1 gegen Frankreich erst einmal sachlich einordnen. Zur Wahrheit gehören nämlich, neben den Umständen, dass man gut gespielt hat, aggressiv gegen den Ball war – hier sei gerne auf den Kommentar Deutschland braucht mehr Biss verwiesen – und taktisch clever agierte, auch die folgenden Punkte, dass Frankreich ohne Kylian Mbappé oder Ousmane Dembélé (von Beginn an) gerade in der Offensive nicht in Bestbesetzung auflief und dass die Frankreich Deutschland den Gefallen getan hat, nicht ganz so tief zu stehen, wie zuletzt Japan oder Kolumbien. So absurd es klingt: Dass Deutschland gegen Frankreich besser aussehen würde als gegen die vermeintlich "kleineren" Gegner, überrascht eher weniger. Dass man am Ende aber auch verdient gewinnt, das vielleicht schon. Was Deutschland tatsächlich sehr gut gemacht hat, ist die Sache mit dem Ballbesitz: Frankreich versucht meist gar nicht erst, den Gegner zu erdrücken, sondern gibt das Spielgerät gerne ab und setzt auf ein brutales Umschaltspiel. Deutschland hat das aber nicht wirklich zugelassen. Als Ousmane Dembélé ab der 65. Spielminute reinkam, hat er seinen Gegenspielern mit seinem Ballgefühl zwar mehr Probleme gemacht, strukturell hat sich aber dennoch nichts geändert und das macht Mut! Auch wenn Deutschland in diesem Spiel weniger offensiv war, hat die DFB-Elf letztlich aber den Ton angegeben und das Tempo der Partie bestimmt. Wenn einem das öfter gelingt, dann darf man auch getrost wieder optimistisch sein. Für die Deutsche Nationalmannschaft steht als Fazit für die Zukunft folgendes: Weniger auf Ballbesitz setzen, dafür aber auf ein simples aber funktionierendes Positionsspiel!

Foto: Christian Kaspar-Bartke / Getty Images