Abstieg statt Aufstieg! Das letzte Länderspiel des Jahres bot noch einmal eine traurige Schlusspointe für die Saison der Türkei. Es gibt trotzdem nach wie vor Hoffnung für die kommenden Aufgaben, die Probleme im türkischen Team sind trotzdem unübersehbar.

Ketzerisch könnte man sagen, dass es ja "nur" um die ungeliebte Nations League ging; zynisch feststellen, dass so in der nächsten Saison gegen kleine Gegner vermutlich mehr Siege herausspringen als in diesem Jahr; oder optimistisch einwenden, dass man nach wie vor für das "richtige" Turnier – also die EM – qualifiziert ist. Völlig falsch wäre das alles nicht, aber auch wenn man die Corona-Situation noch als Entschuldigung heranzieht, bleibt festzuhalten, dass sich die Türkei in dieser Nations League nicht mit Ruhm bekleckert hat. Platz 4, nur ein Sieg und insgesamt sechs Punkte in einer Gruppe mit Russland, Ungarn und Serbien sind schlicht und ergreifend zu wenig. Natürlich hat Şenol Güneş viel getüftelt und probiert, zumindest am Ende wurde das selbsterklärte Ziel Gruppensieg trotzdem krachend verfehlt – und daran muss man sich dann eben messen lassen. Denn auch wenn man die Nations League als eine Aneinanderreihung weiterer Testspiele auf dem Weg zur EM versteht, bieten die so gewonnenen Erkenntnisse Anlass zur Sorge.

Keine defensive Stabilität mehr

Während der EM-Qualifikation war die Defensive das klare Prunkstück der Türkei. Zwei Gegentore in zehn Spielen waren europäischer Bestwert und das türkische Bollwerk musste sich vor keinem Team verstecken. 2020 ist davon nicht mehr viel übrig. Acht Gegentore in der Nations League und dazu nochmal jeweils drei in den beiden Testspielen sind ein klarer Rückschritt. Die Gründe dafür sind vielfältig. Zum einen fehlt der Abwehrchef an allen Ecken und Enden. Çağlar Söyüncü hat sich in seinen jungen Jahren nicht nur zu einem der besten Verteidiger der Premier League gemausert, sondern gibt auch in der türkischen Defensive den Ton an. Seit seiner Verletzung im Oktober agiert die Viererkette kopflos und selbst erstklassige Innenverteidiger, wie Merih Demiral, Kaan Ayhan oder Ozan Kabak, offenbaren plötzlich bisher unbekannte Schwächen.

Neben dem Star-Verteidiger Söyüncü fehlte zumindest in den letzten Spielen allerdings auch zusätzlich der wohl unterschätzteste Spieler im Kader. Umut Meraş hatte sich links hinten zu einer festen Größe gemausert, blieb gegen Deutschland auf der Bank und musste die letzten drei Spiele Corona-bedingt absagen. Seine Vertreter Caner Erkin und Ömer Bayram erwiesen sich zumindest defensiv als Schwachstellen. Begünstigt wurde diese negative Entwicklung auch in Teilen durch den taktischen Kniff, mit einem abkippenden Sechser zeitweise auf Dreierkette umzustellen. So stärkten der jeweilige Linksverteidiger und sein Pendant auf der anderen Seite zwar die Offensive, hatten dann allerdings Mühe bei schnellen Kontern wieder auf ihre Positionen zu kommen. Zumindest diese taktische Variante ist bisher im wahrsten Sinne zu oft nach hinten losgegangen.

Zu allem Überfluss schwächelten dazu zuletzt auch die Torhüter. Uğurcan Çakır enttäuschte gegen Kroatien und auch der sonst so zuverlässige Stammkeeper Mert Günok leistete sich immer mal wieder ungewohnte Fehler. Gegen Ungarn führte ein solcher dann auch zum Gegentor.

Ohne Ideen nach vorne

Und die Offensive? Hier bleibt ein altes Problem weiterhin bestehen: die Türken arbeiten und rackern, pressen hoch und unermüdlich und stellen jeden spielbestimmenden Gegner vor Probleme. Das führt gegen Teams wie Deutschland, Kroatien oder gar Frankreich (während der EM-Qualifikation) zu echten Achtungserfolgen. Sobald die Türken allerdings auf einen Gegner treffen, der ihnen den Ball überlässt, sind sie aufgeschmissen. Das Kreativspiel lahmt bedenklich und in der Folge bleiben auch Torchancen Mangelware. Der Spieler, der hier eigentlich Abhilfe schaffen soll, ist Hakan Çalhanoğlu. Während der hochveranlagte Zehner mittlerweile beim AC Milan nochmal einen großen Sprung gemacht hat, klaffen im Nationaldress Anspruch und Wirklichkeit noch weit auseinander. Der gebürtige Mannheimer sieht sich (zurecht) als Führungs- und Stammspieler, probiert viel, lässt seine Klasse immer mal wieder aufblitzen und entfaltet doch nicht durchgehend sein volles Potential. Ganz ähnlich liegt der Fall bei seinem Mitspieler Yusuf Yazıcı, der mit der Nationalelf nach wie vor fremdelt und dazu unter Çalhanoğlus Status als Platzhirsch leidet. So sitzt der Spieler von Lille nämlich entweder auf der Bank oder muss durchgehend aufpassen, dass er nicht die selben Räume besetzt wie sein Konkurrent auf der Zehn.

Doch die beiden verhinderten Spielmacher tragen natürlich nicht die alleinige Schuld an der Ideenlosigkeit. Da aus dem zentralen Mittelfeld kaum Impulse kommen, ist die Türkei für defensive Gegner leicht auszurechnen. Yokuşlu und Tekdemir sind eher Abräumer als Spielmacher, Tufan ein Arbeiter, der zwar überall auf dem Feld zu finden ist, taktisch allerdings eher wenig beiträgt. Ein neuer Emre Belözoğlu, der das Spiel von hinten lenkt, würde dem türkischen Team häufig gut tun. Die Hoffnungen liegen hier wohl vor allem auf Orkun Kökçü. Der 19-Jährige wird allerdings noch seine Zeit benötigen, bis er eine solch entscheidende Rolle in der Nationalelf spielen kann.

Ausrutscher oder Wendepunkt zum Schlechten?

Die Niederlage gegen Ungarn war ein Wirkungstreffer und der Abstieg in der Nations League so nicht eingeplant. Letztendlich passen sie allerdings trotzdem gut in das Bild, dass die "Milli Takım" 2020 abgegeben hat. Nun gilt der Fokus der WM-Qualifikation und der Europameisterschaft im Sommer. Die Türkei verfügt nach wie vor über eine große Anzahl äußerst vielversprechender Akteure, von denen die meisten sich völlig verdient für die EM qualifiziert haben. Wenn Schlüsselspieler zurückkehren, Leistungsträger an ihr Topniveau heranreichen und Şenol Güneş Antworten auf die taktischen Fragen findet, kann 2021 das verkorkste (Fußball-)Jahr 2020 vergessen machen. Gelingt das nicht, wird man alles wieder auf den Prüfstand stellen müssen. Ein klarer Rückschritt nach dem großartigen 2019.

Foto: Laszlo Szirtesi/Getty Images