Während die Defensive der Türkei gegen Kroatien ungewöhnliche Schwächen zeigte, lief es in der Offensive wie gehabt: ein paar Tore, ein paar überhastete Abschlüsse, großer läuferischer Aufwand, aber nicht immer eine klare Spielidee. Şenol Güneş steht eine große Anzahl spannender Spieler zur Verfügung. Jetzt gilt es weiter auszuprobieren und auszusieben.

Auf den ersten Blick könnte man meinen, dass sämtliche Startplätze in Mittelfeld und Sturm vergeben sind. Okay Yokuşlu auf der Sechs, Ozan Tufan und İrfan Can Kahveci als laufstarke Doppelacht, Çalhanoğlu links, Ünder rechts und in vorderster Spitze Kapitän Burak Yılmaz. So einfach ist es allerdings längst nicht und das beginnt bereits beim Altmeister. Nicht wenige Fans und Experten fordern Cenk Tosun als Stoßstürmer. Der 29-Jährige vom FC Everton fiel zwar lange mit einem Kreuzbandriss aus, zeigte dann aber auch bei seinem Comeback gegen die Kroaten mit einem Tor und einem Assist, dass er nichts verlernt hat. Während es bei seinem Arbeitgeber ebenso unglücklich läuft, wie während seiner Leihe zu Crystal Palace, ist die Nationalelf eine Wohlfühloase, in der er beständig trifft und dementsprechend auch das Vertrauen seines Trainers hat. Genau andersherum läuft es bei Yılmaz. Der Routinier ist in Lille voll eingeschlagen und kommt bereits auf sechs Tore und zwei Vorlagen in der jungen Saison. Im Nationaldress muss man hingegen weit zurückgehen: am 22. März 2019 war Yılmaz zuletzt erfolgreich. Danach folgten zehn Spiele ohne Treffer, wobei der mittlerweile 35-Jährige teilweise auch noch große Geschwindigkeitsdefizite offenbarte. Trotzdem weiß Güneş natürlich, was er an seinem Spielführer hat und hält an Yılmaz fest. Daher rutscht Tosun teilweise auf die rechte Außenbahn und wird zumindest ein wenig seiner Stärken beraubt.

Großes Potential auf den Flügeln

Auch ein Mannschaftskollege des Kapitäns kann seine Form aus dem Verein noch nicht in der Nationalmannschaft bestätigen. Bei Lille machte Yusuf Yazıcı nach einem Kreuzbandriss zuletzt mit zwei Dreierpacks in der Europa League auf sich aufmerksam. Im Nationaldress ist davon noch nicht viel zu sehen. Güneş sucht nach wie vor nach einem Platz für den hochqualifizierten Mittelfeldspieler, setzt ihn mal auf der Zehn, mal auf dem rechten Flügel und teilweise sogar auf der Acht ein. Dazu pendelt der 23-Jährige zwischen Bank und Startelf und durfte nur in drei seiner bisher 25 Länderspiele durchspielen. Am Einsatz mangelt es Yazıcı dabei nie, gerade im Abschluss ist aber meistens Luft nach oben und kluge Aktionen, wie vor dem 3:3 gegen Kroatien, bietet er bisher noch zu selten an. Zwar ruft auch Hakan Çalhanoğlu in Länderspielen nicht durchgehend seine beste Leistung ab, als Unterschiedsspieler hat er seinen Platz aber ebenso sicher, wie Cengiz Ünder. Dahinter hat der Trainer die freie Auswahl: Kenan Karaman, Deniz Türüç und Efecan Karaca konnten zuletzt Pluspunkte sammeln, während Kahveci (teils auch verletzungsbedingt) nicht zum Einsatz kam. Emre Kılınç und Ahmed Kutucu schafften es dazu nicht mal mehr in den Kader, stünden aber natürlich weiter zur Verfügung. Auch wie lange der Trainer noch an Enes Ünal festhält, wird sich zeigen. Der mittlerweile 23-Jährige ist nun endgültig dem Status des Toptalents entwachsen und schafft es weder in der Nationalelf noch in seinen zahlreichen Vereinen sein unbestrittenes Potential abzurufen.

Es ist davon auszugehen, dass Güneş auch in den beiden verbliebenen Spielen des Jahres Spieler testet, auch um die Moral hochzuhalten. Spätestens 2021 wird er allerdings seine Stammelf und einen 23er-Kader finden und dann gerade in der Offensive einige schwere Entscheidungen müssen.

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