Vor den wegweisenden Qualifikationsspielen gegen Albanien und Frankreich muss Trainer Şenol Güneş auf einige (potentielle) Stammspieler verzichten. In der Innenverteidigung kann er dafür aus den Vollen schöpfen. So wie es aussieht auch in Zukunft. Eine Analyse von LIGABlatt-Redakteur Benjamin Bruns.

Die bisherige EM-Qualifikation läuft für die Türkei außergewöhnlich gut. Fünf Siege und eine Niederlage stehen zu Buche und Platz 1 noch vor dem großen Favoriten Frankreich und dem ärgsten Konkurrenten Island ist das Resultat. Das Prunkstück der türkischen Elf ist dabei die Defensive. Nur zwei Gegentore musste Stammtorwart Mert Günok bisher in sechs Spielen hinnehmen. Grund dafür – neben einer guten Torwartleistung und teils offensivschwachen Gegnern – ist die Innenverteidigung. Nach einigen Verletzungen kann Şenol Güneş in den kommenden Spielen auf gleich vier Kandidaten zurückgreifen, die die türkische Abwehr über viele Jahre prägen könnten.

Vier Kandidaten für zwei Plätze

Während sich in anderen Mannschaftsteilen die Topspieler im Herbst ihrer Karriere befinden (siehe Emre Belözoğlu oder Burak Yılmaz) oder rar gesät sind (wenige Linksverteidiger oder Stoßstürmer), ist die Türkei in der Abwehrzentrale außergewöhnlich gut besetzt. Das Besondere dabei ist, dass alle vier Kandidaten (Mahmut Tekdemir ist für das defensive Mittelfeld eingeplant) jung und entwicklungsfähig sind, dabei aber gleichzeitig bereits Verantwortung übernommen und ihr Können nachgewiesen haben. Während sich zu Beginn der Qualifikation eine klare Tendenz über die Besetzung der beiden Plätze erkennen ließ, wurden die Karten jetzt neugemischt. Şenol Güneş steht vor einer schwierigen Entscheidung.

Merih Demiral

Merih Demiral darf wohl getrost als einer der Gewinner dieser Qualifikation bezeichnet werden. Er ist der Fixpunkt in der neuen Innenverteidigung und hat als einziger Kandidat alle Spiele der Qualifikation bestritten. Die überzeugenden Anlagen des erst 21-Jährigen blieben auch Juventus Turin nicht verborgen, die ihn nach einer sehr guten Rückrunde bei Sassuolo für 18 Millionen Euro verpflichteten. Bei der "Alten Dame" kommt Demiral auch aufgrund der starken Konkurrenz um Bonucci, de Ligt und den langzeitverletzten Chiellini zwar bisher nur auf ein Spiel, im Schatten der Altmeister und des jungen Niederländers kann Demiral aber in Ruhe an seinem Spiel arbeiten. Für seinen Nationaltrainer führt offensichtlich schon jetzt kein Weg an ihm vorbei.

Kaan Ayhan

Kaan Ayhan mag zwar der "Oldie" der aktuellen Innenverteidigerriege sein, mit 24 Jahren ist er aber nach wie vor ein Mann für die Zukunft. Aktuell präsentiert sich der 24-fache Nationalspieler noch nicht ganz auf dem Niveau der Vorsaison, dies ist aber auch der Tatsache geschuldet, dass sein Verein Fortuna Düsseldorf die Form der letzten Spielzeit offenbar nicht komplett konservieren konnte. Dazu spielt Ayhan regelmäßig mit neuen Nebenmännern. Der gebürtige Gelsenkirchener hatte nach seiner herausragenden Saison 2018/2019 zwar einige Angebote von größeren Vereinen, entschied sich aber für einen Verbleib bei der Fortuna, wo er nicht nur zum Stammpersonal, sondern auch zu den Führungsspielern zählt. Für Ayhan sprechen neben seinen starken Defensivqualitäten auch seine Vielseitigkeit und seine starken Standards. Dazu trug er sich für die Türkei 2019 bereits zweimal in die Torschützenliste ein. In der Qualifikation kam er bisher fünf Mal zum Einsatz und schien gesetzt zu sein. Dieser Status ist vermutlich nicht mehr in Stein gemeißelt, was allerdings weniger an dem Düsseldorfer selbst liegt.

Çağlar Söyüncü

Vielmehr überrascht sein Konkurrent Çağlar Söyüncü derzeit vor allem in England alle Beobachter. Dabei war der Weg des 23-jährigen, der bereits 2016 noch unter Fatih Terim debütierte, eigentlich vorgezeichnet. Von Altınordu zog es Söyüncü in jenem Jahr nach Freiburg. Unter Christian Streich entwickelte sich der in Izmir geborene Verteidiger zu einer echten Größe und wechselte folgerichtig zwei Jahre später in die Premier League zu Leicester City. Und dort passierte – nichts. Söyüncü kam nicht an Harry Maguire und Jonny Evans vorbei. Im Zweifelsfall wurde ihm sogar der 34-jährige Kapitän Wes Morgan vorgezogen. Am Ende kam Söyüncü auf insgesamt elf Einsätze, davon zwei im EFL Cup und drei in der zweiten Mannschaft. So ist es nicht verwunderlich, dass englische Fachleute äußerst irritiert reagierten, als man bei Leicester zu Beginn dieser Saison keinen Ersatz für Rekordabgang Maguire verpflichtete und Brendan Rogers stattdessen auf Söyüncü setzte. Mittlerweile wundert sich niemand mehr. Der Türke stand in allen acht Ligaspielen komplett auf dem Platz und ist aus der Startelf Leicesters nicht mehr wegzudenken. Mehr noch: auch seinen Leistungen ist es zu verdanken, dass der Verein aus den East Midlands derzeit von Tabellenplatz 4 grüßt. Nun wird bereits Manchester City mit einem Transfer in Verbindung gebracht. In der EM-Qualifikation kam der Wahlengländer zwar bisher nur auf ein Spiel, es ist aber gut möglich, dass Şenol Güneş die aktuelle Topform seiner Nummer 4 honoriert und ihn auch gegen Albanien und Frankreich bringt.

Ozan Kabak

Der Letzte im Bunde ist quasi die Wildcard. Ozan Kabak dürfte derzeit ganz klar der Innenverteidiger mit den wenigsten Einsatzchancen sein, trotzdem ist er ein echter Trumpf. Der erst 19-jährige steht zwar noch ganz am Anfang seiner Karriere, hat aber bereits einiges erlebt. Nach einem überzeugenden Halbjahr bei Galatasaray wechselte er für stolze 11 Millionen Euro zum VfB Stuttgart. Hier etablierte er sich ohne Probleme als Stammspieler und war einer der ganz wenigen Lichtblicke in einer Saison, die mit dem Abstieg in die Zweitklassigkeit endete. Nicht allerdings für Kabak, der offenbar Angebote von Bayern und dem AC Mailand ausschlug und sich stattdessen für den letztjährigen Krisenclub Schalke 04 entschied. Die „Knappen“ zahlten 15 Millionen Euro für den jungen Türken und planten ihn fest für die Innenverteidigung ein. Leider verletzte er sich noch in der Saisonvorbereitung und kommt daher seitdem nicht an Sané und Stambouli vorbei. Auch auf sein erstes Länderspiel wird er vermutlich noch ein wenig warten müssen. Dass Şenol Güneş ihn aber trotz seines Alters nicht für die U21 abstellt, darf sicher als Fingerzeig gewertet werden. Das Talent soll bereits früh die Abläufe im Nationalteam kennenlernen und so in Zukunft eine wichtige Rolle spielen.

Die Qual der Wahl

Aktuell dürften Demiral und Söyüncü die Nase vorn haben. Ayhan steht als verlässliche Alternative bereit und Kabak wird vielleicht für ein paar Minuten oder in einem Testspiel eingesetzt werden. Für wen der vier sich Şenol Güneş auch entscheidet: wenn die Entwicklung der Innenverteidiger so weitergeht, ist die Türkei über Jahre sehr gut im Abwehrzentrum besetzt. Eine echte Luxussituation.

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