Im Rennen um die Nachfolge von Şenol Güneş gibt es einen unerwarteten Favoriten: Stefan Kuntz, aktuell noch Trainer der deutschen U21, soll sich bereits in der Türkei aufhalten und Verhandlungen führen. Spruchreif ist zur Stunde noch nichts, es stellt sich allerdings die Frage, ob der 58-Jährige der Richtige wäre.

Auch wenn es sich eigentlich nicht gehört, muss hier mit einer Gegenfrage geantwortet werden – und sei sie noch so ketzerisch: wer soll es denn sonst machen? Der türkische Fußball braucht dringend einen Neuanfang und auch wenn viele Fans (vielleicht nicht ganz zu unrecht) die Meinung vertreten, dass ein Türke Türken am besten anführen kann, ist das Bewerberfeld doch eher übersichtlich. Da ist zum einen die alte Garde, die bei allem Respekt nicht die richtige Wahl wäre. Kurzzeitig geisterte wieder der Name Fatih Terim durch die türkischen Medien und abgesehen davon, dass dieser wohl keine Freigabe bekäme und möglicherweise auch selbst gar kein Interesse hätte, wäre er die falsche Wahl. Zwar sind seine Verdienste um den türkischen Fußball unbestritten, für einen Neuanfang steht er allerdings nicht.

Auch bei der jüngeren Generation gibt es kaum Kandidaten. Sergen Yalçın fiele einem ein, dieser ist allerdings nicht verfügbar. Emre Belözoğlu kennt viele der aktuellen Spieler zwar sehr gut, der Beginn seiner Trainerkarriere bei Fenerbahçe lief allerdings nicht wirklich erfolgreich. Andere Kandidaten wären zwar unter Umständen verfügbar, haben allerdings kaum Erfolge vorzuweisen. Wie gut sie mit der türkischen Presselandschaft, den kritischen Fans und den Starspielern klarkämen, steht in den Sternen.

Große Erfolge mit jungen Spielern

Und spätestens da kann der Bogen zu Stefan Kuntz geschlagen werden. Der ehemalige Mittelstürmer kann ein Portfolio vorweisen, das ihn auf den ersten Blick zu einem Topkandidaten macht. Er ist zweifacher U21-Europameister, wobei insbesondere der zweite Titel 20/21 eine große Überraschung war. Der Trainer hat aus einer Außenseitertruppe einen Turniersieger geformt und galt sogar als aussichtsreicher Kandidat für die Löw-Nachfolge. Lediglich die jüngste Olympiateilnahme wirft einen Schatten auf seine hervorragende Bilanz für die U21. Hier liegt die Schuld allerdings nicht bei ihm, sondern ist auf die fehlenden Spieler zurückzuführen. Kuntz gilt als absoluter Fachmann, lässt ansehnlichen Offensivfußball spielen und hat vor allem ein Händchen für junge Spieler. Das lässt sich nicht nur perfekt mit dem anvisierten Neuanfang verbinden, sondern passt auch hervorragend zum bestehenden Kader, der der jüngste der letzten EM war. Hinzukommt, dass Kuntz eine Vorliebe für die Türkei nachgesagt wird und er als Spieler in einer Saison für Beşiktaş zumindest ein wenig Erfahrung mit den Eigenheiten des türkischen Fußballs sammeln konnte.

Forderndes Umfeld in der Türkei

Alles gut also? Sollte die Wahl auf Kuntz fallen, blieben auf beiden Seiten trotzdem auch Risiken. So jung der Kader zuletzt auch war, es gibt in der Türkei trotz allem eine Vorliebe für erfahrene und damit verdiente Spieler. Gerade die Personalie Burak Yılmaz wird bei jedem neuen Nationaltrainer für Kopfschmerzen sorgen. Seine Leistungen in Lille sprechen für sich, in der Nationalmannschaft konnte er diese zuletzt allerdings nicht mehr bestätigen. Neben dem Oldie im Team schafften es seit der EM aber auch die anderen Führungsspieler um Kaan Ayhan oder Hakan Çalhanoğlu nicht, dem Team Struktur zu geben. Trotzdem gibt es hinter ihnen aktuell kaum Akteure, denen man mehr Verantwortung zutraut. Überhaupt ist es kaum zu erklären, warum ein derart talentierter Kader seit einiger Zeit dermaßen schlingert. Einem neuen Trainer bliebe nur sehr wenig Zeit, um seine Ideen zu implementieren. Die nächsten Spiele in der WM-Qualifikation steigen bereits Anfang Oktober und die Türkei steht mit dem Rücken zur Wand. Für Stefan Kuntz wäre das Abenteuer Türkei die erste Station in einer A-Nationalmannschaft und ein Misserfolg könnte für beide Seiten auch in Hinsicht auf die Zukunft schmerzhafte Folgen haben. Dazu ist die türkische Öffentlichkeit weder für ihre Geduld, noch für ihre Zurückhaltung bekannt. Diese Probleme würden natürlich theoretisch jeden neuen Coach betreffen, sie sollten vor einer Einigung allerdings trotzdem offen bedacht und besprochen werden.

Kuntz wäre eine sehr gute Option

Restzweifel bleiben also, trotzdem wäre Stefan Kuntz mit Sicherheit eine sehr gute Option. Rein sportlich ist er über jeden Zweifel erhaben und als ehemaliger Türkei-Legionär würde er auch nicht völlig unbedarft in die Aufgabe stolpern. Sein Händchen für junge Spieler, seine Menschenführung und klare Ideen wären grundsätzlich genau richtig für die Türkei. Sollten sich Hamit Altintop und Kuntz also auf eine Zusammenarbeit einigen können, stünde einem echten Neuanfang nichts mehr im Wege. Stefan Kuntz und die Türkei? Das könnte passen!

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