Während in der Süper Lig versucht wird mittels einer Ausländerregelung einheimischen Spielern zu mehr Einsatzzeiten zu verhelfen, liegen die Ziele der größten türkischen Talente eher in Europa. Gerade die EM sollte für viele zum Sprungbrett werden, aufgrund der schwachen Darbietungen gibt es nun allerdings mehr Fragezeichen.

Das (Spiel-)Niveau in der Süper Lig nimmt seit Jahren rapide ab. Mögen auch überraschende Ausrutscher der vermeintlich Großen gegen die Kleinen sowie ein bis zur letzten Sekunde spannendes Meisterschaftsrennen das Ergebnis sein, am verheerenden Gesamteindruck ändert das nichts. Kein Spieltag ohne die nächste große Verschwörungserzählung, keine verdiente und selbstverschuldete Niederlage ohne anschließende Schiedsrichterschelte, kein glücklicher Sieg ohne einen hämischen Kommentar über die verhasste Konkurrenz. Dazu ein selbstherrliches Gebaren der Vereinsoberen (oder jener Personen aus der zweiten bis fünften Reihe, die sich dafür halten) inklusive teils unfassbarer Schuldenberge und fertig ist eine Liga, bei der man sich häufig fragt, ob man tatsächlich erstklassigen Fußball oder doch versehentlich die aktuelle Daily Soap eingeschaltet hat. Wie schlimm es wirklich ist, merkt man dann, wenn die Crème de la Crème des türkischen Vereinsfußballs auf europäischer Bühne antreten muss und dort dann nach allen Regeln der Kunst wahlweise von den tatsächlichen Schwergewichten oder auch nur dem Tabellenführer der slowakischen Fortuna Liga vorgeführt wird. Da keine Änderung in Sicht ist, ziehen viele hoffnungsvolle Türken die entsprechenden Schlüsse und streben in die europäischen Topligen.

Bühne Europameisterschaft wurde nicht genutzt

Die passende Bühne schien mit der Europameisterschaft bereitet zu sein, doch ob nun aufgrund des Drucks, der eigenen Überheblichkeit oder schlicht durch Unvermögen gab man in der Gruppenphase ein geradezu jämmerliches Bild ab. Eigenwerbung dürfte allerhöchstens mit viel Wohlwollen der junge Mert Müldür betrieben haben – und der spielt bereits in Italien. Es ist kaum anzunehmen, dass die Interessenten für Ozan Tufan, Dorukhan Toköz oder Uğurcan Çakır jene Namen nach der Vorrunde in ihren Notizbüchern dick unterstrichen haben. Die Vereine, die über Rıdvan Yılmaz oder Abdülkadir Ömür nachdenken, mussten sie größtenteils sogar vergeblich im Spieltagskader suchen. Ähnliches gilt für Altay Bayındır, wobei ein Torwartwechsel während eines Turniers auch eher ungewöhnlich ist. Trotzdem werden vielleicht einige der genannten Spieler in der nächsten Saison in Italien, England, Spanien, Frankreich oder Deutschland auflaufen. Die grundsätzlichen Anlagen haben sie mit Sicherheit, ob sie bereits auf dem benötigten Niveau sind (oder dieses jemals erreichen werden), wird sich dann erst im Ligaalltag zeigen.

Nationalmannschaftskollegen wie Çalhanoğlu und Söyüncü oder die drei Meister vom OSC Lille zeigen, was möglich ist. Andere Akteure, wie Cengiz Ünder oder Okay Yokuşlu, der trotz ansprechender Leistungen den bitteren Abstieg nicht verhindern konnte, mussten feststellen, dass das Abenteuer Europa auch seine Schattenseiten haben kann. Die oben genannten Akteure gehören zweifellos tatsächlich zum besten was die Türkei zu bieten hat und das offenbar schwerwiegende und lähmende Siegel "Geheimfavorit" hat auch nicht Şenol Güneş der Mannschaft verpasst. Der Ärger über die schwache EM kommt schließlich nicht zuletzt durch die gigantische Fallhöhe, die wiederum auf den "stärksten Kader seit vielen Jahren" zurückzuführen ist. Der Markt für türkische Spieler ist allerdings durch die EM wohl nicht größer geworden, während gleichzeitig die Süper Lig immer weiter an Attraktivität verliert. Eine Ausländerregelung alleine wird hier ebenso wenig Abhilfe schaffen, wie die "Flucht" nach Europa.

Foto: imago