Auch eine weitestgehend überzeugende erste Halbzeit gegen Cagliari kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass anderthalb Wochen vor dem Start der Süper Lig noch viel Arbeit vor den Verantwortlichen Fenerbahçes liegt – vor allem auf dem Transfermarkt. Eine Analyse von LIGABlatt-Redakteur Benjamin Bruns.

Nach zwei Niederlagen gegen die europäischen Schwergewichte Bayern München und Real Madrid und einem kombinierten Torverhältnis von 4:11, sollte die Partie gegen den Tabellen-15. der letztjährigen Serie A vor heimischem Publikum eine realistischere Standortbestimmung liefern. Das ist wohl gelungen, allerdings kann das Fazit nicht positiv ausfallen. Nach der historisch schlechten Vorsaison wurde und wird der Kader von Grund auf erneuert. Die Offensive um Max Kruse wusste dabei durchaus schon zu gefallen, auch wenn die beiden Tore gegen Cagliari durch die zentralen Mittelfeldspieler erzielt wurden. Mit Neuzugang Deniz Türüç konnte dazu noch ein weiterer Qualitätsspieler hinzugewonnen werden. Die Abwehr allerdings ist in dieser Form (noch) nicht wettbewerbsfähig. Durch die Verletzung von Serdar Aziz stehen derzeit mit Sadık Çiftpınar und Diego Reyes nur zwei erfahrene Innenverteidiger im Kader.

Während sich bei ersterem Licht und Schatten regelmäßig abwechseln, gilt letzterer nicht erst nach seinen dramatischen Fehlern gegen Real und Cagliari als einer der ersten Streichkandidaten. Bliebe – Stand jetzt – nur noch Jailson, der seine Stärken klar eine Position weiter vorne hat und offensichtlich mit seiner Rolle im Abwehrverbund fremdelt. Gleich zwei unsichere Torhüter und Fans, die einzelne Spieler bei jeder Ballberührung gnadenlos auspfeifen, tun dann ihr Übriges, um eine instabile Verteidigung endgültig ins Schwimmen zu bringen. Abhilfe sollen Alexandar Kolarov (als Konkurrent für den ebenfalls verletzten Hasan Ali Kaldırım auf der linken Seite), Zanka und Rückkehrer Simon Kjær schaffen, mit denen die Gespräche bereits sehr weit fortgeschritten sein sollen.

Wer führt die Mannschaft neben Emre an?

Vor allem der langjährige Kapitän der Dänischen Nationalmannschaft könnte auch dabei helfen ein weiteres Problem des runderneuerten Kaders zu lösen: den Bedarf an Führungsspielern. Mit Emre Belözoğlu konnten die Kanarienvögel natürlich nicht nur einen absoluten Publikumsliebling, sondern auch einen unumstrittenen Anführer zurück ins Şükrü Saracoğlu Stadion lotsen. Wie wichtig er für die Mannschaft ist, konnte man gut beobachten, als er nach Pfiffen gegen Reyes und Alper Potuk beschwichtigend auf die Fans einwirkte und sich so vor seine Mitspieler stellte. Aber auch spielerisch ist Emre der absolute Fixpunkt. Während er in der ersten Halbzeit gegen die Sarden vehement den Ball forderte (und bekam) und lautstark Kommandos an seine Nebenleute gab, fehlte dieser Faktor im zweiten Durchgang völlig. Ohne Emre, Ersatzkapitän Hasan Ali und den langjährigen Leader Volkan Demirel gab es keinen Spieler, der die Anderen führte.

Interimsspielführer Potuk konnte diese Rolle nicht ausführen und hat durch seine geringen Chancen auf einen Platz in der Startelf weder bei den Fans noch bei seinen Teamkollegen das Standing, um die Mannschaft anzuleiten. In der aktuellen (wahrscheinlichsten) Stammformation wäre höchstens Neuzugang Max Kruse ein natürlicher Führungsspieler. Er wird aber zunächst seinen Platz im Verein finden und die Sprache lernen müssen, um ernsthaft in diese Rolle hineinzuwachsen, die er bereits bei Werder Bremen innehatte. Das Problem für die Kaderplaner: Autorität kann man eigentlich nicht kaufen. Ein Spieler wie Kjær kennt aber zumindest das Umfeld gut genug und verfügt über die Erfahrung, die ein echter Führungsspieler mitbringen muss.

Kein zweiter Regisseur in Sicht

Die vermeintlich letzte Lücke im Kader wird aber auch der Innenverteidiger vom FC Sevilla nicht schließen können. Es fehlt ein zweiter Regisseur im zentralen Mittelfeld. Solange Emre auf dem Feld stand, lief das gesamte Spiel über ihn. Er verteilte die Bälle, ordnete seine Mitspieler und ließ sich immer wieder tief fallen, um das Spiel von hinten aufzubauen. Mit seiner Herausnahme zum Seitenwechsel traten die selben Probleme auf wie in den Spielen gegen den Deutschen und den Spanischen Rekordmeister. Zwar verfügt der Kader nominell über eine ganze Reihe von zentralen Mittelfeldspielern – die spielerischen Fähigkeiten des Kapitäns hat allerdings keiner von ihnen. Jailson ist eher ein Abräumer und Ozan Tufan und Tolgay Arslan klassische Box-to-Box-Spieler.

Neben den wechselwilligen Miha Zajc und Ferdi Kadıoğlu kämen noch am ehesten Tolga Ciğerci oder Mehmet Ekici für die Rolle des Spielmachers in Frage. Bisher blieben beide allerdings den Nachweis ihrer Qualitäten in Kadıköy schuldig. Max Kruse ist dagegen in vorderster Front eingeplant und fungiert nicht vornehmlich als Verbindung zwischen Defensive und Offensive.

Da der mittlerweile fast 39-jährige Emre auch nach eigener Aussage längst nicht jedes Spiel bestreiten kann, wird Ersun Yanal sich Gedanken machen müssen, wer den Kapitän sowohl spielerisch als auch charakterlich adäquat ersetzen könnte. Die Saison beginnt für Fenerbahçe am 19. August gegen Aufsteiger Gazişehir. Bis dahin muss und wird man personell nachlegen und eine neue Hierarchie etablieren müssen. Nur so kann Fener die letzte Saison vergessen machen und endlich wieder oben mitspielen.