Innerhalb von 16 Monaten hat Sergen Yalçın aus einem Scherbenhaufen den neuen türkischen Meister geformt. Gerade im Sommer 2020, als Beşiktaş in Mitten der Pandemie im Chaos zu versinken drohte, traf der Meistertrainer mit Raffinesse, Überzeugung und dem nötigen Glück die richtigen Entscheidungen. Eine Würdigung von LIGABlatt-Redakteur Mario Herb.
Als am Samstagabend der Schlusspfiff in Izmir ertönte, rannte Sergen Yalçın wie die gesamte Beşiktaş-Delegation erstmal auf den Rasen, über beide Ohren freudestrahlend, frohlockend jauchzend, den Emotionen freien Lauf lassend. Erst nach einigen Minuten der Ekstase nahm sich der "Adler"-Trainer einen Moment für sich, setzte sich nochmals auf die Bank, schlug die Hände vors Gesicht und realisierte wohl dann zum ersten Mal, was er in diesen Minuten mit dem Klub vollbracht hat. Dass sich Sergen Yalçın an diesem Samstagabend in Izmir in eine Reihe mit den legendären Gordon Milne, Mircea Lucescu, Mustafa Denizli oder Şenol Güneş stellen würde, schien vor nicht allzu langer Zeit noch undenkbar.
Als Sergen Yalçın Ende Januar 2020 das Amt des zuvor geschassten Abdullah Avcı übernahm, war Beşiktaş ins Tabellenmittelfeld der Süper Lig abgeschmiert, gab sportlich, wirtschaftlich wie organisatorisch ein miserables Bild ab – selbst für türkische Verhältnisse! Ungeachtet seiner Errungenschaften als Spieler, wurde Yalçın zu Beginn auch kritisch gesehen, war er bei seinen vorherigen Trainerstationen in Konya, Alanya oder Malatya zwar stets beständig, aber nur bedingt erfolgreich. Mit welcher fußballerischen Note er den abgestürzten "Schwarzen Adlern" aber neue Flügel verlieh und so innerhalb kürzester Zeit zum Höhenflug verhalf, der sogar in der Champions-League-Qualifikation endete, brachte ihm schnell großen Respekt ein.
Europapokal-Aus und Chaos-Tage im Sommer: Yalçın hält dem frühen Druck stand
Der Sommer 2020 war für Sergen Yalçın dann Fluch und Segen zugleich. Weil bereits drei Wochen nach dem Abschluss der Saison 2019/20 das CL-Qualifikationsspiel gegen PAOK Saloniki anstand, entfiel eine regenerative Pause wie ausgiebige Vorbereitung auf die anstehende 40-Spieltage-Saison komplett – mit dem zu erwarteten Desaster gegen PAOK, wobei sich Beşiktaş ausgelaugt, müde und letztlich planlos präsentierte. Da auch das darauffolgende Spiel für eine mögliche Europa-League-Teilnahme gegen Rio Ave in die Hose ging, war Beşiktaş für die kommende Saison nicht für einen europäischen Wettbewerb qualifiziert. Was sich aufgrund der fehlenden internationalen Einnahmen und des schwindenden sportlichen Rufs zunächst als Super-GAU herausstellen wollte, war aber für den gegenwärtigen Erfolg womöglich entscheidend. Zum einen hatte Beşiktaş nun keine Doppelbelastung durch den Europapokal, zum anderen wurden Yalçın und der Führungsetage vor Augen geführt, dass der Kader trotz kaum vorhandener Mittel noch verstärkt werden muss.
Die auf der Zielgeraden des Sommer-Transferfensters getätigten Personalentscheidungen waren risikobehaftet, alles andere als frei von äußerlicher Kritik, am Ende aber maximal gewinnbringend, mit Sicherheit auch etwas glücklich. Ende September glich der Beşiktaş-Kader einem Kartenhaus, bei dem lediglich die unterste Reihe stand. Einem Gerüst, dem die für den stabilen Halt erforderlichen Bausteine noch eingesetzt werden müssen. Einem mehrteiligem Puzzle, dem es an verschiedenen Stellen noch dem passenden Stück fehlte. Sergen Yalçın wurde zu jener Zeit zum Bauherr, zum Puzzle-Meister, zum Moderator einer so abstrus wirkenden Gemengelage, die im Nachhinein so logisch wie perfekt wirkt.
Richtige Personalentscheidungen: Yalçın setzt das Puzzle zusammen
Bereits vergraulte wie abgeschriebene Profis wie Oğuzhan Özyakup oder Cyle Larin schenkte er das Vertrauen zurück und integrierte sie in den Kader. Externe Neuzugänge wie Valentin Rosier, Josef de Souza oder Rachid Ghezzal reihte er ohne Zweifel direkt ins erste Mannschaftsglied ein, ohne die bestehende Rangordnung durch Führungskräfte wie Atiba Hutchinson oder Domagoj Vida zu untergraben. Mit dem bedingungslosen Festhalten am oft kritisierten Welinton stellte er mediale Kritiker nachhaltig stumm, gleichzeitig moderierte er die zeitweisen Verzichte auf etatmäßige Stammkräfte wie Adem Ljajić oder Bernard Mensah ohne große Nebengeräusche. Mit dem Vertrauen in den jungen Ersin Destanoğlu als neue Stammkraft im Tor sollte Yalcin ebenfalls Recht behalten und aus ihm – wie auch Rıdvan Yılmaz – nicht nur ein neues türkisches Juwel hervorbringen, sondern auch etablieren.
Wegen seines oft ungehaltenen Verhaltens an der Seitenlinie und dem anschließenden Wehklagen über vermeintliche Fehleinschätzungen des Schiedsrichters hat Sergen Yalçın auch – zu Recht – viel Kritik geerntet. Auch das Verhältnis zu Präsident Ahmet Nur Çebi, das aufgrund des immer wieder aufkeimenden Egos des 48-Jährigen als belastet gilt, war und ist nicht astrein. Am Ende – und zwar jetzt, in diesen Mai-Tagen, wenn Beşiktaş stolz mit dem Triumph der Meisterschaft prahlen darf – gibt ihm der Erfolg aber recht. 16 Monate ist Sergen Yalçın Trainer der "Schwarzen Adler", 14 davon unter pandemischen Verhältnissen – ohne Zuschauer, mit noch weniger verfügbaren Mitteln, aber mit dem gleichen sportlichen Erfolgsdruck. "Es war die schwierigste Saison im türkischen Fußball", sagte Yalçın nach dem Titelgewinn rückblickend. Er hat sie – im wahrsten Sinne des Wortes – gemeistert.