Die türkische Nationalmannschaft hat am Sonntagabend mit 3:2 gegen Russland den ersten Sieg in diesem Kalenderjahr gefeiert. Trotz 60-minütiger Überzahl nach der Roten Karte gegen einen Russland-Verteidiger war der Sieg am Ende durchaus glücklich. Rund acht Monate vor der EM fehlen der Türkei weiterhin Souveränität und die Kontrolle der eigenen Mentalität. Ein Kommentar von LIGABlatt-Redakteur Mario Herb.

Wer Mitte der ersten Halbzeit dachte, das Spiel der türkischen Nationalmannschaft wird nach der Roten Karte gegen Russlands Semyonov ein Selbstläufer, der sah sich zunächst bestätigt. Angetrieben vom Rechtsaußen-Wirbelwind Cengiz Ünder rollte die "Milli Takım" über die Russen wie eine Dampfwalze und drehte das Spiel in Überzahl binnen fünf Minuten von 0:1 auf 2:1. Eine Führung im eigenen Stadion, dazu einen Mann mehr auf dem Feld – im Normalfall verleiht das einer Mannschaft Sicherheit und Selbstvertrauen für’s eigene Spiel. Die Türkei, die in diesem Jahr schon so viele Achterbahnfahrten – zuletzt am vergangenen Mittwoch gegen Kroatien (3:3) – hinter sich hatte, verfiel jedoch in bekannte Muster: Selbstgefälligkeit, Unkonzentriertheit, nicht zuletzt eine gewisse "Laissez-faire"-Attitüde.

Dank eines Elfmetergeschenks des polnischen Schiedsrichters Marciniak stellte Cenk Tosun kurz nach Wiederanpfiff sogar auf 3:1 – dann fing das große Zittern aber an. In der eigenen Hälfte verkam die bis dahin gut agierende Defensiv-Reihe zu einem extrem wackligen Konstrukt, bei dem vor allem Caner Erkin in seiner Rolle aus defensiver Linksverteidiger als Unsicherheitsfaktor auszumachen war. In der gegnerischen Hälfte wurden mehrmals aussichtsreiche Kontergelegenheiten und Überzahl-Aktionen schlampig und teilweise egoistisch zu Ende geführt. Schlussendlich hatte die Türkei, die mit einer desolaten Leistungen in den letzten 30 Spielminuten auftrat, mit dem 3:2-Schlusspunkt noch Glück im Unglück. Auch wenn mit dem Russland-Spiel die Ungeschlagen-Serie weitergeht, darf man die Defizite, die dieses Spiel einmal mehr aufgezeigt hat, nicht unterschlagen. Der "Milli Takım" fehlt es weiterhin an der nötigen Souveränität und einer konstanten Leistung über die volle Spielzeit.

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