Die Torwart-Nation Deutschland steht vor einer hitzigen Diskussion: Welcher unserer beiden Weltklasse-Keeper soll im Tor der Nationalmannschaft stehen? Nach der WM 2018 hatte sich das Duell zwischen Manuel Neuer und Marc-André ter Stegen eigentlich gelegt, doch nun ist der Zweikampf hitziger denn je. Warum? Weil ter Stegen mit aller Macht den Platz möchte, den Neuer aktuell absolut zurecht inne hat. Ein Kommentar.

Fußball-Deutschland hat seit Urzeiten etwas, um das uns jede Nation beneidet: Torhüter der Kategorie Extraklasse. In kaum einem anderen Land gibt es derart viele Keeper, die auf Grund der brutalen Konkurrenz nie die ganz große Bühne betreten können. Und um genau diese Torhüter der Kategorie Extraklasse gibt es aktuell mächtig Diskussionsbedarf. Die Protagonisten: Der mehrfache Welttorhüter Manuel Neuer, 33, und sein Rivale vom FC Barcelona, Marc-André ter Stegen, 27. Der Auslöser des Zoffs betrifft die Weltmeisterschaft 2018. Im Herbst 2017 bricht sich Manuel Neuer zum zweiten Mal den Mittelfuß. Nach einigen Monaten wird klar: Ob er es bis zum Turnierstart schafft, ist ungewiss. Er schafft es, allerdings ohne eine einzige Spielminute im Jahr 2018 auf dem Platz gestanden zu haben. Joachim Löw sorgt für Unverständnis, als er erklärt: Mein Kapitän wird auch ohne Spielpraxis in unserem Tor stehen.

Unverständnis deshalb, weil es da einen zweiten Keeper gibt, der den Kasten hätte hüten können. Marc-André ter Stegen in absoluter Topform muss auf die Bank. Vor gut einem Jahr war man mehrheitlich der Meinung: Diese Entscheidung ist falsch. Trotz jahrelanger Erfolge darf ein Bundestrainer keinen Torhüter einsetzen, der keinerlei Spielpraxis hat, wenn er doch einen Mann mit gleichen Qualitäten hätte. Löw aber tat es. Am frühen Aus nach der Vorrunde war Neuer schuldlos. Nach dem Turnier und seiner langen Ausfallzeit fand der Keeper langsam wieder zurück zu alter Stärke. Anfang 2019 war er wieder dort, wo man ihn kennt: An der leistungstechnischen Weltspitze. Woche für Woche lieferte er starke Spiele für den FC Bayern ab. Sein Kollege ter Stegen tat es ihm gleich und überzeugte in der Primera División. So war es auch für die Nationalelf nicht verwunderlich, dass der wiedererstarkte Neuer im Tor bleiben durfte. Ter Stegen nahm das kommentarlos zur Kenntnis, bis zur vergangenen Woche.

Verbaler Kleinkrieg

Manuel Neuer stand in den Qualifikationsspielen gegen Holland und Nordirland in der Startelf. Seine Leistungen? Tadellos. Daraufhin ging ter Stegen an die Öffentlichkeit und stellte klar: Der Platz auf der Bank sei ein Tiefschlag für ihn. Neuer ließ sich einige Tage Zeit, um die Worte seines Konkurrenten zu kommentieren. Dies tat er sachlich und objektiv. Er wolle das Wohl der Mannschaft stets in den Vordergrund stellen und sei der Meinung, dass ter Stegens Kritik dafür nicht förderlich wäre. Wenige Tage später schlug der Barca-Keeper überraschend zurück. Neuers Aussagen wären unpassend gewesen, so ter Stegen. Neuer macht nun das, was schon ter Stegen hätte tun sollen. Er beendet den verbalen Kleinkrieg mit den Worten "Ich werde dazu nichts mehr sagen. Von mir aus wird es dazu keine Aussagen mehr geben.“ Ist die Diskussion damit endlich beendet? Und welcher Torhüter hat die Nummer Eins eigentlich verdient?

Die Welt wartet auf Patzer von Neuer

Die Lobby dieses Zweikampfs steht klar auf der Seite von Marc-André ter Stegen. Jeder möchte sehen, wie der jüngere Herausforderer es schafft, den Champion zu stürzen. Die Berichterstattungen geben ihr Bestes, um Neuer unter Druck zu setzen. Hält der 33-Jährige fantastisch, finden seine Paraden kaum Erwähnung. Unterläuft ihm aber der kleinste Fehler, stürzt man sich auf ihn. Bei ter Stegen erleben wir umgekehrte Vorzeichen. Liefert er eine super Partie ab, überschlagen sich die medialen Lobeshymnen. Unsicherheiten werden ihm im Gegensatz zu Neuer verziehen. Warum? Manuel Neuer war 2014 der gefeierte Mann. Weltweit hob man ihn auf einen Thron und bezeichnete ihn als besten Keeper, den es jemals gab. Auch in den Folgejahren überzeugte er restlos. Dann kamen seine beiden Mittelfußbrüche. Wie jeder Sportler brauchte er seine Zeit, um wieder auf sein vorheriges Level zurückzukommen. Und wie jedem Sportler unterliefen ihm in dieser Zeit kleine Rückschläge.

Löw hatte 2018 die Wahl: Vertraue ich meinem Kapitän oder schlage ich mit ter Stegen ein neues Kapital auf. Wenn es einen Zeitpunkt für einen Torwartwechsel gab, dann im Mai 2018. Er entschied sich dafür, seinem langjährigen Rückhalt die kleine Schwächephase zu verzeihen. Und genau dieses Vertrauen zahlt sich nun aus. Gleiches erlebte Neuer beim FC Bayern. Er wurde von Sven Ulreich glänzend vertreten, durfte aber nach seiner Genesung sofort zurück ins Tor. Hätte sich Löw 2018 für ter Stegen entschieden, es hätte wohl die gesamte Fußballwelt verstanden. Jetzt, im September 2019, sieht die Sachlage anders aus. Manuel Neuer hält alles, was auf seinen Kasten kommt. Seine Leistungen rechtfertigen die Nummer Eins zweifelsohne. Dazu ist enormem Druck ausgesetzt, denn: Beim kleinsten Fehler wird er zerrissen und mit der Forderung nach ter Stegen konfrontiert. Kaum ein Spieler hat in den vergangenen zehn Jahren derart viel für den DFB getan, wie Manuel Neuer. Unvergessen, seine unmenschlichen Leistungen der WM 2014. Marc-André ter Stegen muss akzeptieren: Auf der Position, die ich möchte, steht zur Zeit ein Keeper, der keine Fehler macht. Der fantastisch hält und ein absoluter Führungsspieler ist. Und genau dieser Keeper hat diese Position auch verdient. Er täte gut daran, sich in Zukunft mit provokanten Äußerungen zurückzuhalten? Warum? Weil Neuer gezeigt hat, dass er sich seine Sachlichkeit nicht nehmen lässt und immer zum Wohle der Mannschaft handelt. Bei allem Verständnis für ter Stegen, aber: Manuel Neuer ist die derzeitige Nummer Eins im deutschen Tor. Verdient. Vollkommen verdient.

Foto: Jamie Squire/Getty Images