Der Auftakt der Europa League sollte für Beşiktaş eine Möglichkeit werden, die bisher enttäuschende Saison zumindest für einen Moment vergessen zu machen. Es kam anders und Beşiktaş geriet unter die Räder. Für die Fans kommt es noch schlimmer, denn die Probleme sind tiefgreifend. Eine Analyse von LIGABlatt-Redakteur Benjamin Bruns.

Nach dem blamablen 2:4 gegen Bratislava steht der sprichwörtliche Baum bei Beşiktaş lichterloh in Flammen. Für viele Fans sind die Schuldigen bereits gefunden und in den (wenig) sozialen Medien werden Präsident Fikret Orman, Trainer Abdullah Avcı und Torhüter Loris Karius virtuell zum Teufel gejagt. Ganz so einfach ist es natürlich nicht, trotzdem stehen die drei angesprochenen sinnbildlich für die drei großen Probleme der "Schwarzen Adler".

Die Neuzugänge schlagen (noch) nicht ein

Da ist zum ersten der Präsident, dem eine fehlgeschlagene Kaderplanung vorgeworfen wird. Auch hier ist die Wahrheit natürlich komplizierter und man sollte nicht unterschlagen, dass Beşiktaş strenge Auflagen seitens der UEFA zu befolgen hatte und auch deshalb finanziell nicht in die Vollen gehen konnte. Auch deswegen laden die Neuzugänge nicht unbedingt zum Träumen ein. Mohamed Elneny und Abdoulay Diaby sind zwar nur geliehen und kosten damit vergleichsweise wenig, konnten ihre Stärken aber bei ihren Stammvereinen (zuletzt) fast gar nicht nachweisen. Es bleibt abzuwarten, ob sie ausgerechnet in der Süper Lig über sich hinauswachsen können. Ähnliches gilt für Georges-Kevin N’Koudou, der – auch verletzungsbedingt – weder bei Tottenham, noch bei Monaco eine Rolle spielte. Der Franzose ist zweifelsohne talentiert, ob er aber die erhoffte Königslösung auf Linksaußen sein kann, muss sich zeigen. Tyler Boyd konnte seine Ablöse bisher ebenfalls noch nicht rechtfertigen. Die Abwehr wurde mit erfahrenen Spielern definitiv verstärkt, aber auch Ruiz, Rebocho und Douglas werden noch Eingewöhnungszeit brauchen, die sie eigentlich nicht mehr haben. Bei den Abgängen fällt wohl nur der "Pitbull" Gary Medel ins Gewicht. Kagawa lehnte eine Rückkehr ab und war eher Ergänzungsspieler und Altmeister Quaresma hatte bereits viel Kredit verspielt.

Mut zur Lücke

Der eigentlich Königstransfer sollte aber Trainer Abdullah Avcı werden, der mit Başakşehir bereits einige Achtungserfolge verbuchen konnte. Ob der erfahrene Coach die Zeit bekommt, beim Istanbuler Stadtnachbarn auf ähnliche Erfolge hinzuarbeiten, steht in den Sternen. Schon vor dem Spiel gegen die Slowaken wurde der 56-Jährige angezählt, da sein präferiertes 4-1-4-1 bisher überhaupt nicht fruchtete. Seine Spieler haben die taktischen Vorgaben noch nicht verinnerlicht und treffen auch deshalb zu oft die falschen Entscheidungen. Gerade wenn die beiden Außenverteidiger (gegen Bratislava Rebocho und Douglas) nach innen ziehen oder außen aufrücken, ergeben sich für den Gegner riesige Lücken, die zum Kontern geradezu einladen. Auch in der Vorwärtsbewegung fällt den Kickern vom Bosporus bisher zu wenig ein. Dass ein Ziel- und Führungsspieler wie Burak Yılmaz oder mit Oğuzhan Özyakup zuletzt auch ein (potentieller) Kreativspieler ausfielen, hilft der Sache natürlich nicht. Es ist aber auch nicht davon auszugehen, dass die taktischen Probleme mit der Rückkehr der beiden behoben sind. Hier muss Avcı schnellstens ansetzen, wobei das Medien- und Fanecho deutlich größer ist, als bei seinem vorherigen Arbeitgeber.

Patzer werden bestraft

Loris Karius hingegen kann einem leid tun. Erneut wird der Torwart zum Sinnbild für individuelle Patzer, die einer Mannschaft das Genick brechen. Diese häufen sich in dieser Saison und Karius ist dabei längst nicht der einzige Problemfall. Natürlich war sein Lapsus gegen Bratislava unerklärlich, für die weiteren Treffer konnte er dagegen nichts. Dafür rutschte Víctor Ruiz beim Ausgleich am Ball vorbei und entblößte dabei die gesamte Abwehr. Gegen Gazişehir vertändelte Domagoj Vida wiederum nach wenigen Minuten einen Ball, verursachte einen Elfmeter und sah die rote Karte. Dazu trat Neuzugang Elneny nach einem Ellenbogenstoß nach und kassierte dafür ebenfalls einen Platzverweis. Fehler können passieren und gehören dazu, bei Beşiktaş häuften sie sich allerdings und wurden hart bestraft. Die Mannschaft wirkt nicht gefestigt und leistet sich derzeit zu viele individuelle Fehltritte, die – bei allem Respekt – vor allem von stärkeren Teams als Gaziantep oder Bratislava noch gnadenloser ausgenutzt werden. Dass man sich dazu als eigentlicher Favorit am Ende quasi ohne Gegenwehr und mit hängenden Köpfen abschießen lässt, spricht dazu nicht gerade für den Teamspirit.

Die Mischung macht‘s

Die Mischung aus einem Kader mit starken Anpassungsschwierigkeiten, einer Taktik, die noch nicht aufgeht und einer kollektiven Verunsicherung sorgen derzeit dafür, dass Beşiktaş nicht in die Spur kommt. Die nächsten Gegner bieten zunächst wenig Grund zur Hoffnung: in der Liga geht es gegen Avcıs Ex-Club und in der Europa League wartet mit den Wolverhampton Wanderers der nominell stärkste Gegner. Möglich dass Beşiktaş über sich hinauswachsen. Falls nicht sind personelle Veränderungen leider nicht auszuschließen.

Foto: Vladimir Simicek/Getty Images